Diese Woche hat das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) die Auftrags-Studie von Swiss Economics zur Wirksamkeit von nicht-pharmazeutischen Massnahmen publiziert (Studie als PDF). Die Autoren haben versucht, mit recht komplexen mathematischen Modellen die Frage zu klären, welche Massnahmen eine signifikante Wirkung auf die Hospitalisationsrate gehabt haben könnten. Die Autoren sahen sich mit der Frage konfrontiert, wie denn der Verlauf ohne Massnahme gewesen wäre. Eine Kurzfassung der Problematik dieser Evaluation findet sich in der NZZ vom 15.6.22 von Hansueli Schöchli. Der Artikel titelt dann gleich mit der Hauptaussage des NZZ-Autors: „Weniger Spitaleinweisungen dank Schliessung von Restaurants“. Das ist in der Tat die wichtigste Aussage der Studie. In der Zusammenfassung haben die Autoren sogar die Aussagen in einer Tabelle zusammengefasst. Dabei heisst „negativ“, dass die Massnahme zur Senkung von Hospitalisationen führte:

Evaluation der Einzeleffekte schwierig
Die Autoren beschreiben in ihrer Arbeit das zentrale Problem eindrücklich: Wenn man die Wirksamkeit einer Massnahme im Rahmen eines Lockdowns beurteilen will, so hat man immer das Problem, dass eine Massnahme nie isoliert eingeführt wird. Dabei versuchten die Autoren vor allem Unterschiede bei den Massnahmen in den Kantonen auszunutzen. Dies in der Annahme, dass sich in den Kantonen das übrige Verhalten vergleichen lässt. Natürlich ist dem nicht so, was die Autoren auch beschreiben. Denn die Kantone und die Bevölkerung selbst haben die Bedrohung unterschiedlich eingeschätzt. Wenn ein Kanton viele Warnungen ausspricht und dringend eine Barschliessung beschliesst, so wird diese Empfehlung nicht nur den Besuch von Bars verhindern, sondern auch weitere persönliche Verhaltensänderungen mit sich bringen. Damit sind zahlenmässige Veränderungen in der Hospitalisationsrate nicht zwingend nur auf die Barschliessungen zurückzuführen. Diese Unterschiede im Verhalten von Menschen konnten wir alle auch eindrücklich sehen, wenn wir nach der Aufhebung von Massnahmen in der Schweiz unterwegs waren. Das Verhalten der Menschen in den Bahnhöfen St. Gallen, Zürich oder Bern war sehr unterschiedlich, sei es nur das freiwillige Tragen einer Maske, die Händedesinfektion oder das Anstehen an einem Büroschalter.

Die Autoren der Arbeit haben diese Einschränkung ausführlich diskutiert. Sie haben auch  intensiv versucht, unterschiedliche Modelle und unterschiedliche Datensätze in die Beurteilung einzubeziehen. Daraus resultierten dann auch unterschiedliche Wirksamkeitsschätzungen. So oder so, die Aussagen zu einzelnen Massnahmen bleiben eine Modellberechnung und die Wirkungen der Massnahmen könnten über- aber auch unterschätzt sein. So schreibt Schöchli auch zu Recht: „Einer einzelnen Analyse sollte man deshalb nicht allzu viel Gewicht beimessen“. Eine weitere Problematik bei der Beurteilung der Wirksamkeit von Massnahmen ist die Frage, wie gross der Effekt der Massnahme war und ob sich die negativen Folgen der empfohlenen Massnahme durch den Effekt derselben auch rechtfertigen lassen. Dabei denke ich nicht nur an wirtschaftliche Folgen.

Maskenpflicht als Beispiel
Grundsätzlich ist unbestritten, dass eine Infektionskrankheit der Atemwege wie Covid nur übertragen wird, wenn Menschen beisammen sind. Bei maximaler Isolation, wie das z.B. China zu praktizieren versucht, werden wir somit immer einen Effekt haben. Die Frage ist, mit welchen Kosten. Die Dursetzung einer Maskenpflicht ist ein oft genanntes Mittel, welches vergleichsweise billig ist. Die Wirksamkeit derselben ist allerdings ebenfalls bescheiden (siehe dazu „Der Corona Elefant„, S. 164f), was auch in der SECO-Analyse (s. Abb. oben) bestätigt wird. Doch wir haben bereits angedeutet, dass Lock-Down Massnahmen auch gesundheitliche Konsequenzen haben können (siehe dazu „Der Corona Elefant„, S. 170). Wir werden bald hier die Frage des Immun Immun-Trainings im Alltag diskutieren. Hier sei lediglich festgehalten, dass ein Effekt einer Massnahme immer auch mit deren „Nebenwirkungen“ abgewogen werden muss. Die SECO-Analyse untersucht bewusst KEINE Nebenwirkungen von Massnahmen, sei es wirtschaftlicher oder medizinischer Art. Sie fokussiert – gut nachvollziehbar – lediglich auf die Abschätzung der Wirkungen.

Signifikant heisst nicht zwingend verhältnismässig
Mit dieser Einschränkung zur Aussage der Studie ist auch gleich das Hauptproblem bei der Beurteilung von Massnahmen angesprochen: Auch wenn eine Massnahme für sich betrachtet die Anzahl von Hospitalisationen reduzieren kann, so bedeutet dies nicht, dass man sie auch einführen muss. Die SECO-Studie hat Massnahmen beurteilt, welche zur Senkung von Hospitalisationszahlen führten. Doch wie im Corona-Elefant dargelegt (S. 159 ff.), müssen wir uns zunächst überlegen, welches Ziel eine Massnahme hat. Das deklarierte Ziel war immer die Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems und nicht die Anzahl Hospitalisationen, auch wenn letztere natürlich ein entscheidender Marker für das genannte Ziel ist. Dass unter den zahlreichen Analysen in der SECO-Arbeit einzelne Massnahmen mit einer Senkung der Hospitalisationszahlen assoziiert sind, ist wie oben erwähnt keine Überraschung. Die Frage ist aber nicht nur, ob der Effekt signifikant, also statistisch erhärtet ist, sondern ob der beobachtete Effekt ausreicht, um damit die in Kauf genommenen Schäden zu rechtfertigen. Diese Analyse ist noch ausstehend.

Natürlicher Verlauf unterschätzt
Die SECO Studie auch publizierte Arbeiten einbezogen und referenziert. Dabei fällt auf, dass die Studie keine Arbeiten zur Wirksamkeit von Lock-Down Massnahmen VOR der Covid-Pandemie berücksichtigt hat. Dies scheint mir ein grosser Mangel. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass sich Menschen jetzt zum ersten Mal Gedanken zur Wirksamkeit von Massnahmen gemacht haben. Auch sollten wir, um uns vor neuen Herausforderungen zu wappnen, nicht davon ausgehen, dass eine nächste Pandemie gleich verlaufen wird, wie die Covid-19 Pandemie. Insbesondere schade erachte ich es, dass die Autoren die interessanten Arbeiten zum Verlauf der Epidemien VOR oder OHNE Lock-Down Massnahmen nicht in die Diskussion einbezogen haben. Denn aus diesen Arbeiten geht hervor, dass bei fast allen untersuchten Epidemien, selbst bei der schweren Spanischen Grippe 1918, die Infektionszahlen abfielen, bevor die Massnahmen beschlossen wurden. Es scheint, dass wir in unserem „Machbarkeits-„Wahn den natürlichen Verlauf von Epidemien etwas unter- und unsere Massnahmen eher überschätzen. Ich empfehle meinen Lesern daher die Lektüre der entsprechenden Zusmmenhänge im Corona-Elefant auf Seite 169f.

Photo by Sarah Kilian on Unsplash