Vermutlich geht es Ihnen auch so: Wir blicken nach vorn und wollen die seltsamen Zeiten vergessen, in denen wir Dinge taten, über die wir heute vielleicht nur den Kopf schütteln können. Doch wir erinnern uns alle an die Abstandskleber am Boden, an die Kunststoff-Scheiben für das Schalterpersonal, allgegenwärtige Desinfektionsspender, gesperrte Pissoirs.  Die Fantasie schien grenzenlos, mit der wir neue Massnahmen zum «social distancing» umsetzten. Mit Zertifikaten sollte die weitere Ausbreitung von Covid gestoppt werden. Und selbst nach Einführung der Covid-Impfung wurden viele Massnahmen noch über ein Jahr fortgeführt.

Aufarbeitung bleibt eine Pflicht
Die schärfsten, und auch für uns alle bedeutendsten Massnahmen waren wohl die geschlossenen Ladengeschäfte und Schulen sowie ähnliche Einschränkungen im Alltag. Doch in der Berichterstattung hören wir eigentlich immer den gleichen Tenor: Die Schweiz habe doch die Corona-Pandemie eigentlich ganz gut gemeistert. Daher soll man jetzt auch nicht mehr ernsthaft zurückblicken.

Doch waren unsere Entscheidungen und Massnahmen wirklich so klug? Haben wir die vorhandene Evidenz adäquat einbezogen? Nur wenn wir uns diesen Fragen weiter widmen, können wir für die Zukunft aus unseren bisherigen Fehlern lernen.

Retrospektive Europäische Studie mit neuen Erkenntnissen
Eine aus verschiedenen Europäischen Ländern zusammengesetzte Gruppe von Experten im Bereich öffentliche Gesundheit, Epidemiologie und Statistik hat nun eine wichtige Untersuchung zur Wirksamkeit von Präventionsmassnahmen publiziert (Quinn, J Clin Med, Jan.24). Die Autoren haben den Verlauf der in Wellen verlaufenden Fallzahlen in einigen Europäischen Ländern erfasst. Nun wollten sie wissen, inwieweit sich social distancing Massnahmen oder die Durchimpfung der Bevölkerung auf den Verlauf der Erkrankungszahlen ausgewirkt haben. Als dritten möglichen Einflussfaktor untersuchten die Autoren die Saisonalität der Coronavirus-Infektionen. Denn es ist allgemein gut bekannt, dass Corona- wie auch Influenza-Viren einer starken Saisonalität unterworfen sind. Um diesen weiteren Einflussfaktor zu erfassen, haben die Autoren den Verlauf von früheren (endemischen) Coronavirus-Wellen der letzten zehn Jahre in Schweden analysiert.

Saisonalität erklärt den beobachteten Verlauf am besten
Diese Erhebung basiert auf epidemiologischen Daten von fast 100 Millionen Menschen in Nordeuropa. Aufgrund der Analyse vom zeitlichen Ablauf der verschiedenen Massnahmen, der Impfstrategie und der Saisonalität von Coronaviren schliessen die Autoren recht klar, dass die «Pandemiewellen» am besten mit der Saisonalität von Cornaviren zu erklären sei. Sie fanden keine konsistente oder klare Evidenz, wonach die verschiedenen social distancing Massnahmen oder die Impfstrategie irgend einen Einfluss auf den Verlauf der Erkrankungszahlen hatte.

Keine neue Erkenntnis
Schon früher wurde beobachtet, dass wir kaum einen Zusammenhang zwischen Fallzahlen und der Intensität von Massnahmen erkennen können. Im Buch «Der Corona-Elefant» (S. 167) haben wir von den Analysen der Johns Hopkins Universität in Zusammenarbeit mit dem amerikanischen CDC berichtet. Die Illustration dokumentierte einen sehr eindrücklichen Unterschied des epidemischen Verlaufs der beiden benachbarten Staaten North und South Dakota. Die beiden bezüglich Population recht ähnlichen Staaten unterschieden sich deutlich in der Durchführung von social distancing Massnahmen (vertikale Striche). Doch wie man beim Verlauf der Fallzahlen (orange) sieht, zeigten die beiden benachbarten Staaten praktisch den gleichen epidemischen Verlauf.

Im Folgenden hier die Abbildung zum Vergleich der beiden Staaten aus dem Buch Der Corona-Elefant. Die Originaldaten sind noch immer hier einzusehen

Der Vergleich von North und Süd Dakota war für mich immer ein sehr eindrückliches Beispiel, welches die Frage aufwarf, ob unsere Massnahmen überhaupt etwas bewirkt haben.

Die Daten bestätigen bisherige Evidenz
Nun haben wir mit dieser neuen epidemiologischen Analyse von grossen Fallzahlen eine fast 100 mal grössere Datenbasis, welche im Wesentlichen den gleichen Schluss zulässt, wie wir das damals schon während der Pandemie vermutet hatten: Es findet sich bei sauberer Analyse schlicht kein Hinweis, wonach unsere gut gemeinten Massnahmen einen messbaren Effekt auf den Verlauf der Epidemie hatten.

Tatsächlich gibt es noch einige weitere Hinweise, welche in die gleiche Richtung zeigen. Auch bereits im Buch Corona-Elefant haben wir darauf hingewiesen, dass die Fallzahlen in ALLEN untersuchten Populationen rückläufig waren, bevor die entsprechenden Präventionsmassnahmen wirkten (s. auch hier). Gleiches wurde sogar während der Spanischen Grippe 1918 beobachtet (Goldstein 2009). Wir können also auch nicht sagen, wir hätten nichts davon gewusst. Im letzten Jahr haben wir hier auch über eine mögliche biologische Erklärung für dieses interssante Phänomen berichtet.

Die neue Europäische Studie muss uns zu denken geben. Mehr und mehr Puzzlesteine ergeben ein neues Bild. Es ist Zeit, dass wir uns hinter eine gründlichen Analyse unserer Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie machen.

Beitragsfoto:  P Vernazza