Die New-York-Times berichtet diese Woche über eine massive Überlastung der Kinderspitäler in den USA. Haben wir sowas nicht schon gesehen?
Häufung von RSV-Fällen
Beim aktuell beobachteten Anstieg von Hospitalisationen in den USA geht es um eine Häufung von Infektionen mit dem «Respiratory Syncytial Virus», kurz RSV. Es ist eine Infektionskrankheit, welche im Kleinkindalter vor allem in den Wintermonaten häufig ist. Sie manifestiert sich meist als «Schnudernase», kann aber gerade bei jungen Säuglingen auch zu schweren Verläufen führen, welche eine Hospitalisation notwendig machen. Offenbar wurden im Oktober 22 in den USA auffallend viele Kinder mit RSV hospitalisiert. Ein Zentrum in Südkalifornien berichtet von einer Hospitalisationsrate von 1:500. Das heisst: Im Oktober mussten von 500 Säuglingen jünger als 6 Monate einer hospitalisiert werden.
Nicht ganz neu
Das Phänomen ist beeindruckend, aber nicht ganz neu. Ich bin eher überrascht, dass es in den USA erst jetzt beobachtet wurde. Denn das Phänomen wurde erstmals im Winter 2020/2021 in Australien beobachtet, also seltsamerweise während der Sommersaison auf der Südhemisphäre. Australische Epidemiologen haben ausführlich darüber berichtet. Foley et al. zeigten bereits 2021 diese eindrückliche epidemiologische Darstellung (s.Abb.).
In der Studie von Foley et al. wurden RSV-Diagnosen bei Kindern eines Zentrumsspitals in Perth dargestellt. Die rote Kurve zeigt die monatlichen Fallzahlen. Es zeigt sich eine typische Kurve von RSV-Fällen in den Sommermonaten 2019 (Wintersaison in Australien), also vor der Pandemie. Eindrücklich dann die Saison 2020, in der – völlig atypisch für den Verlauf der Erkrankung – praktisch keine Fälle gesehen wurden. Dies war in einer Zeit, in der social distancing Massnahmen sehr aktiv durchgesetzt wurden. Die rote Linie zeigt die jährlich zu erwartenden, saisonalen RSV Fälle. Auffällig ist nun der Anstieg von massiven Hospitalisationszahlen in der folgenden (warmen) Jahreszeit (rechts aussen).
Dieses Phänomen ist nicht einzigartig. Es wurde in vielen europäischen Ländern, auch in der Schweiz gesehen (Siehe Präsentation der epidemiologischen Lage am 5.8.21 www.paediatrieschweiz.ch).
Fehlt den Kindern das immunologische Training?
Auf Seite 170f. im «Corona-Elefant»* haben wir beschrieben, dass «Physical Distancing» auch Schaden anrichten könnte. Wir hatten ältere Studien zitiert, welche zeigen, dass das angeborene Immunsystem auch ein Training braucht: Unser angeborenes Immunsystem kann Viren erkennen, selbst wenn der Mensch noch nie mit dem Virus in Kontakt war. Die angeborene Immunantwort reagiert auf ein RNA-Virus mit einer Interferon-Antwort. Die rasche Interferonantwort kann Viren und von Viren infizierte Zellen rasch zerstören. Was wir nun erst einige Jahre wissen, dass diese Abwehr trainiert werden kann. Das heisst, immer, wenn unser Abwehrsystem ein RNA-Virus sieht, wird die Fähigkeit der Zelle, Interferon zu produzieren, gestärkt. Bei einem weiteren Kontakt mit irgendeinem anderen (RNA-)Virus ist die Abwehr schneller und effizienter. Das Problem dieses Trainingseffektes ist, dass er nur etwa ein halbes Jahr andauert. Das heisst, er muss jedes Jahr neu aufgebaut werden.
Dieses als «immunologic training» bezeichnete Phänomen, könnte durchaus die beobachteten Krankheitshäufungen bei Kleinkindern erklären. Die Phase der «Social distancing» Massnahmen hat nachweislich (s. Grafik Foley et al. Australien) zu einem Rückgang der Kontakte mit Viren geführt. Dieser Rückgang könnte erklären, weshalb nun nach einer Sommerpause plötzlich «untrainierte» Kinder (respektive deren untrainiertes Immunsystem) vermehrt Mühe haben, meist banale Viruskrankheiten zu begegnen.
Im Buchkapitel* zu den Folgen des «physical distancing» hatten wir auch weitere Konsequenzen des mangelnden Immunologischen Trainings diskutiert. Und auch, dass RSV-Infektionen für ältere Menschen durchaus gefährlich sein können. Da wir diese RSV-Infektionen bei älteren Menschen mit Lungeninfektionen gar nicht systematisch suchen, können wir auch nicht davon ausgehen, dass es tatsächlich keinen Anstieg von solchen schweren Verläufen bei betagten Menschen gibt.
*Falls der «Der Corona-Elefant» noch nicht in Ihrem Büchergestell steht, die dritte Auflage ist noch nicht vergriffen und kann direkt beim Verlag bestellt werden.