Darf ich Sie mit altem Wissen langweilen? Wenn ich gewisse Zeitungsartikel lese, scheint mir, eine Wiederholung von Altbekanntem sei angebracht. Seit vielen Jahren wissen wir, wie das erworbene Immunsystem funktioniert. Im seinem Beitrag „Immunität gegen SARS-CoV-2“ im Buch Der Corona Elefant erklärt der Immunologe Andreas Radbruch die Funktionsweise des erworbenen (adaptiven) Immunsystems (S. 148 ff.). Dabei zeigt er sehr schön die bekannte Weise, wie das erworbene Immunsystem nach einem Erstkontakt mit einem Erreger rasch ein Lernprogramm einschaltet, welches „lernt“, mit dem „neuen“ Erreger umzugehen. Dabei bildet es spezifische – also exakt dem Erreger angepasste – Abwehrkörper sowie Abwehrzellen. Die Antikörper können eine Zweit-Infektion mit exakt demselben Erreger vollständig verhindern. Wir sprechen dann von „neutralisierenden“ Antikörpern. Allerdings wissen wir auch schon seit Jahrzehnten, dass Coronaviren ihre Oberfläche so rasch ändern, dass die zuvor gebildeten Antikörper gegen das veränderte Virus nicht mehr wirken (keine neutralisierende Wirkung). Dies ist auch der Grund, weshalb Coronaviren bei uns seit Jahrzehnten immer wieder Erkältungen auslösen. Bisher verzichteten wir einfach darauf, diese Veränderungen laufend mit griechischen Buchstaben zu benennen und in einem Dashboard anzuzeigen.

Nicht Antikörper, Abwehrzellen sind wichtig für die Abwehr
Die Veränderung der Virusoberfläche über die Zeit ist allerdings kein relevantes Gesundheitsproblem. Denn unser Immunsystem ist hier sehr viel breiter unterwegs: Mit dem Aufbau einer Antikörper-Antwort baut es gleichzeitig die viel wirkungsvollere zelluläre Antwort auf. Dabei entstehen Zellen, welche eine vom Virus befallene Körperzelle sehr rasch erkennen und dann zerstören können. Es kommt zwar wegen fehlender neutralisierender Antikörper zur Infektion, doch diese wird viel schneller abgewehrt. Diese zelluläre Abwehr ist gegen sehr viele Bestandteile des Virus gerichtet. Insbesondere nach einer natürlichen Infektion (im Gegensatz zur Impfung mit nur einem kleinen Bestandteil des Virus) fällt diese Antwort breiter aus. Sie erkennt aber nicht nur viele Virusabschnitte, sie hat – im Gegensatz zu den neutralisierenden Antikörpern – auch den Vorteil, dass sie weniger exakt arbeitet. Die Erkennung eines Virusprotein kommt auch dann noch zustande, wenn sich das Protein etwas verändert hat. Ein bekannter Immunologe hat diese Eigenschaft im Gespräch einmal mit „lausig“ charakterisiert. Nicht, dass die Biologie ein lausiges System hat, nein, es ist gerade die etwas weniger präzise Antwort, welche es dem Immunstem erlaubt, selbst bei leicht veränderter Virusstruktur noch eine effiziente Antwort aufzubauen. Das zelluläre Immunsystem arbeitet weniger exakt, oder nennen wir es: grosszügiger! Dies war auch der Grund, dass wir während der Schweinegrippe 2009 sehr wenig schwere Fälle bei älteren Menschen (über 60) hatten. Dies deshalb, weil diese Population vor über 50 Jahren bereits einmal mit einem ähnlichen – aber längst nicht identischen – Grippevirus „H1N1“ Kontakt gehabt hat. Das zelluläre Immunsystem wehrt also auch veränderte Viren ab, es ist da nicht so exakt unterwegs wie die Antikörper. Und, sein Gedächtnis hält praktisch lebenslang, was Andreas Radbruch in einem Nature-Editorial (14.6.21) mal sehr schön mit folgender Abbildung illustriert hat:

Dabei zeigt die rote Linie den Verlauf der Antikörper im Blut. Natürlich können diese nicht für eine Ewigkeit aufgebaut werden, wir wüssten ja nicht wohin damit, nach allen Infektionen. Aber im Knochenmark bauen wir ein Langzeitgedächtnis auf (blaue Linie) und diese Antwort bleibt eben lebenslang.

Unsere Kenntnisse des Immunsystems sind nicht neu
Auch wenn man zuweilen den Eindruck erhält, niemand könne wissen, wie sich SARS-CoV-2 verhalten werde, und niemand wisse, sie sich die Immunantwort entwickeln werde, so müssen wir doch festhalten, dass dem nicht so ist. Wie ich auch zu Beginn des Kapitels „Medizinische Grundlagen zum Umgang mit COVID“ (ab S.134) ausführte, wollten uns Medien und gewisse Fachleute klar machen, wir hätten keine Vorstellung wie sich das Virus und das Immunsystem verhalten werden, daher müsse man besonders vorsichtig sein. Ja auch noch vor wenigen Tagen hat das „Wissensmagazin“ Scinexx  angekündigt, ein neues Virus stünde bevor und würde jetzt dann besonders stark übertragen und wir sollten uns doch bitte nach sechs oder besser vier Monaten gleich wieder impfen lassen…

Der Omikron-Booster ist keine Wunderwaffe
Dass Medien und auch einige „Impfspezialisten“ immer nur von Antikörpern sprechen hat viele Gründe. Mit ein Grund auch die Tatsache, dass die Untersuchung der zellulären Immunantwort sehr aufwändig, zeitraubend und teuer ist. Auch bei Impfstoffen wird praktisch immer nur die Antikörper-Antwort untersucht. In der aktuellen Booster-Diskussion wird nun behauptet, die Booster Impfung könne die Antikörper-Bildung etwas stimulieren. Ja, das kann man im Labor nachweisen, doch die Wirkung ist bescheiden. Kommt dazu, dass selbst bei Verwendung eines neuen Impfstoffes (Omikron, dualer Impfstoff) das Immunsystem meistens noch einen bekannten Fehler macht: Wir nennen dies „Antigenic sin“. Das Immunsystem sieht das neue Antigen (Omikron-Spike) reagiert aber sofort: „Aha, das kenne ich schon“. Und nach dieser etwas unpräzisen, „lausigen“ Überprüfung, (s.o.), mobilisiert das System seine Gedächtniszellen, und bildet rasch Antikörper. Aber vorwiegend solche vom ersten Typ, die bereits nach der ersten Impfung gebildet wurden. So erklären wir uns, dass bei einer Booster-Impfung eben nur in deutlich geringerem Ausmass (wenn überhaupt) neutralisierende Antikörper gegen Omikron gebildet werden.

Eine neue Arbeit aus Tübingen räumt auf
Anfangs November wurde eine ausgezeichnete Arbeit von Immunologen der Universität Tübingen publiziert (Maringer et al., Science-Immunology 1.11.22). Diese Autoren haben sich nun die grosse Arbeit gemacht, die Funktion der zellulären Immunantwort gegen Sars-Cov-2 über die Zeit zu studieren. Ich empfehle meinen interessierten Kollegen die Lektüre dieser Arbeit wärmstens. Für die Leser mit weniger Grundkenntnissen in Immunologie fasse ich die Resultate in einigen Sätzen zusammen:

  • Die Autoren haben die zelluläre Immunantwort vier Wochen und 6 Monate nach Covid-Impfungen mit verschiedenen Impfstoffen untersucht, als auch die Antwort vier Wochen nach einer Booster-Impfung
  • Bei der Testung der zellulären Antwort zeigt man den T-Zellen (im Labor) das Antigen (also Spike-Protein) und schaut, wie viele Zellen dieses Antigen spezifisch erkennen und eine Abwehr aufbauen.
  • Zusätzlich hatten die Autoren auch die Antikörperbildung nach Impfung, auch nach Omikron-Impfung untersucht.
  • Resultate: Mit allen Impfstoffen konnte eine breite T-Zell-Antwort mit gutem Immun-Gedächtnis gezeigt werden. Diese war vergleichbar mit der Antwort, die man bei natürlicher Infektion sah. Die Antwort war deutlich höher als in Zellen, welche noch vor der Pandemie tiefgefroren wurden (also noch keinen Viruskontakt hatten)
  • Nach der Booster-Impfung kam es zu einem Anstieg (8-fach) der Antikörper gegen Spike, diese fielen (wie erwartet) dann über wenige Monate wieder ab.
  • Entscheidend aber: Die zelluläre Antwort (ansprechen der T-Zellen auf Kontakt mit Virusprotein) war lange anhaltend und stabil (wer hätte das gedacht!). Wichtiger noch: Die Booster Impfung führte zu keinem weiteren Anstieg der T-Zell-Funktion.
  • Und das Pünktchen auf dem „i“: Die T-Zellen reagierten auch nach Stimulation mit dem „Omikron“-Spike Protein (wir erinnern an die etwas grosszügigere, oder „lausigere“ Arbeitsweise des zellulären Immunsystems).

Konsequenzen für unser Verständnis von Covid und Zukunftsprognosen
Wie schon erwähnt: Was die Kollegen aus Tübingen hier gezeigt haben, ist eine wunderschöne Bestätigung dessen, was wir vom Immunsystem eigentlich erwarten: Nach einem Erstkontakt mit dem Virus (Impfung oder Infektion) baut das Immunsystem eine lebenslänglich gültige Abwehrfunktion gegen den Erreger auf. Diese Funktion verhindert zwar keine Infektion, aber sie führt dazu, dass weitere Infektionen milder verlaufen, weil rascher abgewehrt. Und selbst wenn sich das Virus nun mit der Zeit verändert und wir dazu noch das ganze griechische Alphabet verwenden müssen, wird die zelluläre Antwort uns bis ins hohe Alter erhalten bleiben. Und wenn wir dann hochbetagt sind, werden wir – wie für andere Coronaviren gut bekannt (Patrick, 2006) – dann doch wieder anfällig für schwere Infektionen.

Und was heisst dies für die Impfung?
Nichts anderes, als was wir schon seit vielen Monaten aus all den verfügbaren Daten ableiten: Wer sich einmal impfen lässt, senkt sein Risiko für eine schwere Infektion. Der Wert dieser Schutzwirkung ist (respektive war) höher, je älter die geimpfte Person. Einmal grund-immunisiert, sei es durch zwei Impfungen oder durch eine Erkrankung, besteht lebenslang ein Schutz vor schweren Verlaufsformen. Eine Booster-Impfung soll zurückhaltend indiziert werden. Praktisch alle sogenannten «Risikopersonen» hatten bereits eine Covid-19 Erkrankung. Damit haben sie eine ausgezeichnete langlebige Immunantwort. Der zusätzliche Booster hat hier kaum noch einen messbaren Nutzen. Der Einsatz muss auch mit den Risiken der Booster-Impfung balanciert werden. Und die wiederholte Boosterung hat neben dem Risiko einer Schwächung der angeborenen Immunantwort (s. unseren Beitrag) auch das theoretische Risiko, dass sie zur Toleranz führt. Auch ein Phänomen, das wir aus der Immunologie kennen. Daher meine klare Empfehlung, solange wir es nicht besser wissen und alle Risiken bekannt sind: Finger weg vom Booster!

 

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Foto: Tyler Nix on Unsplash