Eine seltsame Frage, werden Sie denken. Ist es auch. Am Ende werden Sie auch verstehen, weshalb ich diesen Artikel auf Corona-Elefant.ch vorstelle. Ich möchte Sie mit einem interessanten Forschungsresultat vertraut machen, das diese Woche in der Zeitschrift Nature publiziert wurde (Bin et al. 8.3.2023) und einmal mehr die wunderbare Komplexität der Natur zeigt.

Was steuert unser Verhalten bei Krankheit?
Wir kennen das alle: Bei einer Infektionskrankheit werden wir müde, ziehen uns zurück, unter die Decke. Bisher gingen wir davon aus, dass dies die Folge von Entzündungsstoffen im Körper sei, welche das Gehirn erreichen und dort die Verhaltensänderung hervorrufen. Quasi als Nebeneffekt der Entzündungsreaktion. Nun hat eine Gruppe der Harvard Medical School ein interessantes Experiment publiziert, welches unser Verständnis diesbezüglich völlig auf den Kopf stellt.

Prostaglandine als wichtige Botenstoffe
Wir kennen Prostaglandine als wichtige Botenstoffe bei Infektionen. Sie werden im Entzündungsherd gebildet. Werden bei einer Infektionskrankheit viel Prostaglandine gebildet, insbesondere das Prostaglandin PGE2, dann gelangen diese ins Gehirn, binden dort an einen Rezeptor (genannt EP3) und lösen dort die Verhaltensänderung aus. So jedenfalls unser bisheriges Verständnis.

Verhaltensänderung auch ohne EP3-Rezeptor
Nun haben die Autoren für ihr Mausexperiment Mäuse verwendet, bei denen sie im Gehirn den EP3-Rezeptor ausgeschaltet haben. Damit – so die Erwartung – konnte das Prostaglandin im Gehirn nicht erkannt werden und dürfte damit keine Verhaltensänderung bei den infizierten Mäusen auslösen.
Die Überraschung war gross: Obwohl die Prostaglandine kein „Signal“ an das Gehirn übermitteln konnten (der Rezeptor war ja ausgeschaltet), zeigten die Mäuse nach Infektion mit Grippeviren die für den Zustand einer Infektion typischen Verhaltensänderungen: Rückzug, Appetitverminderung, etc.

Direkte Nervensignale aus den Atemwegen!
Die Autoren entdeckten nun einen bisher unbekannten Mechanismus für die Signale ans Gehirn. Sie fanden direkte sensorische Nervenverbindungen, welche in den oberen Atemwegen das Prostaglandin PGE2 erkennen und deren Fasern mit dem für die Verhaltensänderungen verantwortliche Zentrum im Gehirn verbunden sind. Das Signal erreicht somit das Gehirn nicht durch die Erhöhung von Prostaglandine, sondern durch eine direkte Nervenverbindung.

So what! Weshalb eine Diskussion auf dieser Homepage?
Zum ersten, ist dies doch eine fundamental neue Erkenntnis. Wir haben auf diesem Blog immer wieder biologisch faszinierende Phänomene beschrieben und möchten unseren Lesern – viele sind an solchen biologischen Themen interessiert – diese neue Erkenntnis nicht vorenthalten.
Doch das neu entdeckte Phänomen erinnert mich auch an eine Passage im Buch „Der Corona-Elefant“. Dort hatte ich ausgeführt, dass in allen Ländern, wo man dies während der Pandemie untersucht hat, die Reproduktionsrate sank, bevor die Lockdown-Massnahmen eingeführt wurden. Dort haben wir dann auch berichtet, dass das gleiche Phänomen bereits in einer retrospektiven Analyse für die Spanische Grippe 1918 in Philadelphia beschrieben wurde. Die Resultate dieser retrospektiven Analyse sind in der folgenden Abbildung zusammengefasst:

Die schwarze Linie zeigt den Abfall der Reproduktionsrate. Diese unterschreitet den wert 1 bereits einige Tage bevor der Lockdown beschlossen wurde. Es zeigt sich (grün), dass die Reproduktionsrate innerhalb einer Woche auf die Hälfte abgefallen ist, während die Fallzahlen (rot) noch am steigen waren. Dieses Phänomen, das hier bereits 2009 gut bekannt war, hat sich dann während der Corona-Pandemie ebenso gezeigt (weitere Referenzen im Buch).

Die Biologie ist doch sehr raffiniert!
Offenbar verhalten sich Menschen während Krankheitsausbrüchen immer wieder in derselben Art: Es kommt über unbekannte Mechanismen zu einer Verhaltensänderung. Wir hatten im Buch auf S. 170 über mögliche Mechanismen spekuliert:

Natürlich werde ich nun nicht behaupten, dass wir jetzt eine Erklärung für dieses beobachtete Verhalten beim Menschen haben. Wir haben jetzt eine einzige Beobachtung an Mäusen gezeigt. Aber es ist doch eindrücklich, dass sich die Evolution die „Mühe genommen hat“ eine spezielle Nervenbahn einzurichten, welche von der Nasenschleimhaut direkt in unser Gehirn reicht und dort unmittelbar nach Freisetzung von Infektionssignalen im Nasenrachenraum eine Verhaltensänderung auslöst, welche den Kontakt mit anderen Menschen reduziert. Interessant ist auch, dass dieser Mechanismus – mindestens bei Mäusen – sehr früh zu Beginn einer Erkrankung ausgelöst wird.

Biologie der Mathematik überlegen
Sicher, diese neue Erkenntnis ist jetzt keine Erklärung für die Beobachtung der sinkenden Reproduktionsraten vor Einführung behördlicher Massnahmen. Doch die sehr komplexen und raffinierten biologischen Zusammenhänge lassen mich immer wieder staunen und suggerieren, dass unsere mathematischen Modelle, mit denen wir Epidemien erklären und sogar voraussagen möchten, vermutlich viel zu einfach sind.

 

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