Mittwochabend, 16. März 2022. Der grosse Saal im Zürcher Kulturbetrieb Kaufleuten ist nicht gerade auf den letzten Platz, doch aber sehr gut gefüllt. Weit über 200 Personen sind für die Buchvernissage des „Corona-Elefanten“ angereist, eines von Konstantin Beck, Andreas Kley, Peter Rohner und Pietro Vernazza herausgegebenen Sammelbandes. Dieser beinhaltet diverse Texte aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich kritisch mit der Schweizer Politik in den letzten zwei Jahren auseinandersetzen und zum Nachdenken anregen sollen. Nicht zufällig wurde denn auch explizit der 16. März 2022 als Veranstaltungsdatum ausgewählt, handelt es sich dabei doch um das unrühmliche Zwei-Jahresjubiläum des ersten Covid-Lockdowns, welcher vom Bundesrat über die gesamte Schweiz verhängt wurde.
Damit die Herausgeber und Kritiker nicht nur unter sich diskutieren, wurde ein Podiumsgespräch organisiert, an welchem für die Herausgeber Konstantin Beck und Pietro Vernazza teilnahmen. Unterstützung erhielten sie von Ruth Baumann-Hölzle, welche ihrerseits einen Beitrag im Sammelband verfasst hatte. Die Theologin und Ethikerin hatte sich in der jungen Vergangenheit gegen ein Impfobligatorium positioniert; ebenso engagiert sie sich gegen die im Mai 2022 zur Abstimmung gelangende Widerspruchslösung bei der Organspende. In die „Höhle des Löwen“ – so die Worte der Moderatorin Esther Girsberger – begab sich Manuel Battegay, Chefarzt für Infektiologie am Universitätsspital Basel und früheres Mitglied der BAG Task Force. Die Organisatoren mussten lange suchen, bis sie jemanden gefunden hatten, der bereit war, mit ihnen zu diskutieren. Es scheint, als sei Covid de facto ein Elefant im Raum, über den insbesondere vonseiten der Massnahmebefürworter kaum noch jemand diskutieren will. „Es war doch alles verhältnismässig und wir haben den Kollaps verhindert“, so der implizite Tenor vieler. Umso wichtiger also, dass es eine Herausgeberschaft gibt, welche mit wissenschaftlichem Anspruch kritischen Stimmen und Fragen Raum gibt. Denn eines ist gewiss: Ohne Aufarbeitung der Vergangenheit kann man nichts für die Zukunft lernen. Und wie gefährlich es ist, nichts aus der Geschichte zu lernen, zeigt just die Geschichte.
Der gesamte Abend zeigt eindrücklich, wie wichtig das Falsifikationsprinzip in der Wissenschaft ist. Die eigene Auffassung ist also genau so lange richtig, bis sie nicht durch bessere Erkenntnisse widerlegt wird. Dies heisst nicht, dass Wahrheit nicht existiert, sondern nur, dass menschliche Erkenntnis beschränkt ist, was sich – aus Juristensicht ist dies besonders hervorzuheben – bisweilen an Fehlverurteilungen unschuldiger Personen im Strafprozess besonders erschreckend zeigt. Selbstverständlich existiert diesfalls eine Wahrheit, sie lässt sich aber retrospektiv oft nicht mit Gewissheit rekonstruieren, woraus denn auch das Grundrecht der Unschuldsvermutung folgt. Aus der objektiven Unmöglichkeit absoluter Perfektion folgt aber auch, dass man kritische Fragen auch dann stellen darf, wenn man selber nicht sämtliche Fragen bis ins letzte Detail beantworten kann. Mit anderen Worten muss man nicht die absolute Wahrheit kennen, um Kritik äussern zu dürfen. Vielmehr ist ausreichend, dass die eigene Erkenntnis die angebliche Wahrheit der herrschenden Lehre (wissenschaftlich) bzw. des Mainstreams (umgangssprachlich) widerlegen kann. Konkret: Der Vorwurf vieler, wonach die Kritiker der Corona-Politik nur kritisieren, ohne eigene Lösungen zu präsentieren, ist naiv. Denn wer meint, sich nicht gegen den kollektiven Unsinn äussern zu dürfen, weil er selber nicht perfekt ist, wird sich zeitlebens gar nie äussern.
Sehr erfrischend war denn auch, dass nicht absolute Perfektion im Vordergrund des Podiumsabends stand, sondern der Vergleich mit Dritten bzw. der öffentlichen (Mehrheits-)Meinung. Dabei legten die Podiumsteilnehmer den Finger durchaus auf die wunden Punkte. Ruth Baumann-Hölzle fragte zum Beispiel, warum trotz klarer Bekanntheit des Covid-Risikoprofils während zwei Jahren die gesamte Bevölkerung über einen Kamm geschert wurde. Oder wie es sich erklären lasse, dass man bis zu zwei Wochen nach der Impfung bei einer Hospitalisation als ungeimpft gelte. Konstantin Beck ging noch weiter. Provokativ fragte er, worauf denn zurückzuführen sein könne, dass es 2020 ohne Impfung keine Übersterblichkeit junger Personen gab, welche offenkundig nicht zur Covid-Risikogruppe gehören, 2021 mit Impfung aber zum Beispiel im Kanton Basel-Stadt sich die Todesfälle auch junger Personen gehäuft haben. All diesen Fragen ist gemeinsam, dass sie nicht die alleinseligmachende Wahrheit proklamieren, doch aber bewirken, dass die offizielle Wahrheit in vielerlei Hinsicht widerlegt wird. Am eindrücklichsten für den gesamten Abend dürfte wohl das Votum des Mitautors und pensionierten Hausarztes Thomas Schweizer gewesen sein. Warum man nicht einfach mit der Ungewissheit leben und ebendiese, die es bei Krankheits- und Heilungsverläufen naturgemäss gebe, stehen lassen konnte? War so viel schrille Angstmache aus Bundesbern wirklich nötig? Ex-Task-Force-Mitglied Battegay verschlug es sichtlich die Sprache. Er stimme zu, murmelte er nur.
Bleibt also zu hoffen, dass die kritische Fragekultur des Vernissageabends auch in der breiten Bevölkerung ankommt und dort nicht zulasten falscher politischer Korrektheit oder gar opportunistischem Konformismus weicht. Da die Aufarbeitung einiger Covid-Massnahmen auch und gerade vor den Schranken der Gerichte erfolgen wird, ist umso wichtiger, dass auch die verantwortlichen Gerichtspersonen die Grundlagen des Beweisrechts nicht vergessen. Zum Beispiel, dass die Beweislast für sämtliche Voraussetzungen von Grundrechtseinschränkungen beim Staat liegt oder dass der Hauptbeweis bereits dann erschüttert wird, wenn die Gegenseite (d.h. oft die betroffene Privatperson) reale Restzweifel am Hauptbeweis wachhalten kann. Werden diese Prinzipien beherzigt, lässt sich vermeiden, dass den staatlichen Autoritäten eine nachträgliche Generalabsolution erteilt wird. Rechtsstaatliche Grundsatzfragen, beispielsweise Kompetenzabgrenzungen von Bundesrat und Parlament, werden für die Zukunft geklärt und staatliche Macht wieder in die Schranken der Verfassung gewiesen. Wenn zudem noch die Rolle der Medien kritisch hinterfragt wird (leider – und dies ist ein echter Wermutstropfen – wollte Podiumsmoderatorin Esther Girsberger als SRF-Omubdsfrau just über jenes Thema explizit nicht reden), setzt sich auch in der breiten Bevölkerung die Einsicht durch, dass der Staat kein göttliches Wesen ist. Die angeborene Freiheit gewinnt.
3 Comments
Tatsächlich wäre eine kritische Aufarbeitung der Rolle der Medien dringend nötig. Und wer wäre eher dazu berufen, den ersten Schritt zu machen als eine Ombudsfrau? Die Exponenten von SRF, Blick, Tagi, NZZ, Sonntagszeitung, St. Galler Tagblatt und wie sie alle heissen sind wohl ganz froh um den dreisten russischen Überfall auf die Ukraine. So können sie ein anderes Thema mit ihrer Selbstgerechtigkeit überziehen und in ihrer gewohnt voyeuristischen Art ausschlachten. 20min.ch hat sich dabei nicht entblödet, Massnahmekritiker und Putin-Freunde in die gleiche Ecke zu stellen. Immerhin: Besser kann man ein schlechtes Gewissen nicht dokumentieren.
Sehr geehrter Herr Weber
Interessanterweise erfolgt die Aufarbeitung nun durch einen technischen Mitarbeiter der SRG, den Video-Operator Martin Hasler. Sein Buch „Im Hexenkessel der Bundeshaus-Medien: Tagebuch eines Insiders“ kann unter
https://martin-hasler.ch/
bestellt werden.
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